Drogen zu nehmen gilt in Berlin ja irgendwie als normal. Um nach einer anstrengenden Arbeitswoche runterzukommen, kommen Berliner:innen am liebsten drauf – so das Klischee. Aber was ist wirklich dran am Berliner Druffi-Image? Ist der Ruf der Drogenstadt mehr produzierter Mythos oder hat Berlin wirklich ein Problem?
Wer aus Berlin kommt oder hier lebt, kommt früher oder später mit Drogen in Berührung. Der Hauptstadt eilt ein ungesunder Ruf voraus. Neben Alkohol und Gras gehören Ecstasy, Keta und weitere chemische Substanzen zum „verrückten Berliner Alltag“ dazu, ja geradezu zum guten Ton, besonders bei jüngeren Erwachsenen, die gern und viel ausgehen. Aber auch unter vielen Älteren in belastenden Jobs, dann gern Koks oder Speed, für den schmaleren Geldbeutel. Internet-Memes wie „Before Berlin/After Berlin“ untermauern das Bild: Vor dem Umzug nach Berlin: ein aufgeweckter Blick, eine gesunde Gesichtsstruktur. Nachher: Blasse Haut, trübe Augen.
Es drängt sich die Frage auf: Woher hat Berlin eigentlich sein Druffi-Image? In der Stadt wird gefeiert, das ist wunderbar und auch nicht von der Hand zu weisen. Dabei ist Berlin aber doch so viel mehr als Berghain und Raves. Drogen- und Partykultur sind von Haus aus eng miteinander verknüpft.
Ist Berlins Ruf also vor allem ein Produkt von Zugezogenen und Partytouristen, die die hiesige Clubszene als ein Eldorado des Eskalierens erleben wollen? Oder ein Wunschdenken der Technoszene, die ihre Substanzaffinität als zu akzeptierende Eigenart ihrer Wahlheimat rechtfertigen will? Oder aber: Geht es schon lange nichts mehr ums Feiern und ist der Rausch in Berlin wirklich schon zum Problem geworden?
Mit einem Blick auf die Statistik wollen wir uns ein erstes Bild verschaffen. Wird in Berlin, natürlich in Relation zur Einwohnerzahl, wirklich mehr konsumiert, als anderswo in der Bundesrepublik? Das Bundeskriminalamt (BKA) verweist auf Anfrage auf eine Übersicht der erfassten Rauschgiftdelikte deutscher Hauptstädte der vergangenen Jahre.
Berlin liegt als größte, deutsche Stadt zwar gemessen an der Zahl der Drogendelikte auf Platz 1 – rund 21.000 Vergehen im Zusammenhang mit Rauschgift hat das BKA im Jahr 2020 in der Stadt erfasst. Hamburg, mit gerade einmal halb so vielen Einwohner:innen, ist Berlin mit rund 15.000 Delikten jedoch dicht auf den Fersen. Im gediegenen München ging es wenig überraschend mit 8.000 Drogendelikten im gleichen Jahr etwas ruhiger zu. Die letzte deutsche Millionenstadt, Köln, ist als Nicht-Hauptstadt leider nicht gelistet. Dafür aber das westfälische Düsseldorf, das, gemessen an der Einwohnerzahl, mit knapp 4.000 Delikten in einer Hochrechnung sogar Berlin schlagen würde.
Die Zahlen entkräften das „naughty Image“ unserer Stadt also ein bisschen. Ein direkter Vergleich ist jedoch schwierig. Das weiß auch Leon Woisch vom BKA, der die Zahlen zur Verfügung gestellt hat. Er gibt zu Bedenken, dass „Bevölkerungs- und Gelegenheitsstrukturen“ lokal unterschiedlich seien. Bei der Hochrechnung der Zahlen werde nur die amtlich gemeldete Wohnbevölkerung einbezogen, nicht jedoch Pendler, Touristen und Durchreisende. Laut Woisch sind zudem „urbane Lebensformen und Lebensstile“ zu berücksichtigen, die „partiell abweichendes Verhalten begünstigen“.
Im Klartext: Allein die Zahlen machen Berlin nicht zur Drogenstadt. Aber natürlich wird nicht jeder Konsum gelistet. Und in puncto Lebensstil ist Berlin bekanntermaßen ein bisschen „eigen“. Wer in der Hauptstadt unterwegs ist, kommt schnell und oft mit illegalen Substanzen in Berührung. Viele (Wahl-)Berliner:innen werden sie kennen, die gefährliche Zwickmühle aus geschätzter Freiheit und chronischer Überforderung durch Überangebot. Da wundert es irgendwie auch nicht, dass die Berliner:innen laut dem Deutschen Glücksatlas die unglücklichsten Deutschen sind.
Depressionen und andere psychische Probleme können anfällig machen für Rauschmittel – die hier zum Beispiel in der Ketamin-Klinik aber auch bewusst zur Behandlung eingesetzt werden. Und die lockere Berliner Haltung, die Menschen aus aller Welt anzieht, die in der Selbstfindungsphase sind, wirkt dem Drogenproblem der Stadt bestimmt auch nicht gerade entgegen.
Drei große Drogenhilfeträger gibt in der Hauptstadt. Die Realität, dass in Berlin Drogen konsumiert werden, wird von diesen Organisationen als solche akzeptiert, Aufklärung und „sicherer Konsum“ stehen im Vordergrund. Rüdiger Schmolke ist Koordinator des Projekts Sonar, das Partygänger:innen, die Substanzen nehmen, unterstützt und berät.
Er weiß um die hohe Verbreitung und den selbstverständlichen Gebrauch aller möglichen Substanzen in Berlin – nicht zuletzt im Nachtleben. Das Angebot von Sonar richtet sich vor allem an Konsument:innen, die mit Drogen experimentieren und ihren Konsum reflektieren und sicherer gestalten wollen. Wie viele Menschen in der Stadt gelegenheitsmäßig bis regelmäßig konsumieren, sei jedoch schwer zu sagen, meint Schmolke. Denn man „behalte nur schwer den Überblick“ und „wirklich verlässliche Zahlen“ hätten er und seine Kolleg:innen auch nicht. Zudem gelinge es den meisten Menschen ihren Substanzkonsum gut in ihr Leben zu integrieren.
Eine weitere Untergruppe richte sogar ihren Lebensstil sehr stark aufs Feiern aus. Oft finde diese Entscheidung jedoch gar nicht bewusst statt, sagt Schmolke. „Welche Rolle Drogenkonsum im Leben spielt, das entscheidet man ja in der Regel nicht bewusst. Sondern man wächst ins Leben rein. Die Menge der Drogen, die jemand nimmt, ist auch maßgeblich vom Setting und der sozialem Umgebung abhängig“, meint er. Wobei es in Berlin eben auch leicht ist, an Drogen zu kommen. Das Kokain wird hier auf Wunsch per Taxi nach Hause geliefert.
Berlin insgesamt einen Drogenruf zu attestieren, findet Schmolke jedoch irreführend. „Was die Stadt auszeichnet, ist die dichte Clubszene, in der viele synthetische Mittel konsumiert werden. Substanzkonsum, beispielsweise auch von Alkohol, ist in unserer Gesellschaft aber insgesamt hoch. Hinzu kommt, dass jede große, deutsche Metropole unterschiedliche Konsummuster, Angebote und soziale Milieus aufweist.“ Die Verbindung zwischen Berlins Drogen- und Feierkultur sieht Schmolke jedoch klar. Neben Nachtarbeit im Gastgewerbe könnten hohe Affinitäten für Kunst und Kultur in der kreativen Stadt Berlin als „selbstverstärkende Effekte“ für den Drogenkonsum eine Rolle spielen.
Es ist und bleibt ein offenes Geheimnis, dass viele Berliner:innen gerne und oft konsumieren. Und die wenigsten machen, selbst aus illegalem Gelegenheitskonsum, einen Hehl. Nun wird es wohl in wenigen Jahren deutschlandweit erlaubt sein, Gras zu rauchen. Was ein Meilenstein für die Drogenpolitik bedeutet, könnte zum Armutszeugnis für Berlin werden, argwöhnte tipBerlin-Redakteur in seinem Kommentar. Denn als deutsche Hauptstadt könnte Berlin den Kiffertourismus abbekommen, und ob das bei Berliner:innen für mehr Lebensqualität sorgt, ist fraglich. Aber zurück zu unserer Ausgangsfrage. Hat Berlin ein Drogenproblem oder sollten alle anderen, außer uns, einfach mal ein bisschen lockerer sein?
Der Begriff Lebensqualität bedeutet in Berlin etwas anderes, als anderswo. Unsere Stadt bietet vieles vielen nicht, etwa bezahlbare Wohnungen, gut bezahlte Jobs oder saubere Flüsse und Wälder. Was sie aber bietet, ist Freiheit. Und ein besonderes Gefühl von Grenzenlosigkeit, das in einem gewissen Lebensalter anziehend wirkt und gepaart mit ungelösten Problemen vielleicht manchmal zu Übermut und ungesunden Gewohnheiten führt. Wahrscheinlich liegt Berlins Drogenruf daher in der Natur der Sache, ist Klischee, Mythos und Realität zugleich, und wird auch bestehen bleiben, solange es Menschen gibt, denen es in unserer Leistungsgesellschaft schwer fällt, sich selbst zu akzeptieren und sich einfach gut zu fühlen. Man kann es ihnen nicht verübeln. Und Drogen-Image hin oder her: Wir alle wissen doch, dass unsere Stadt ist so viel mehr ist als Berghain, Drogen und Raves.