Die israelische Armee hat zahlreiche Indizien vorgelegt, die auf eine militärische Nutzung des Shifa-Spitals hinweisen. Ob sich unter der Klinik tatsächlich ein Hamas-Hauptquartier befindet, bleibt jedoch weiterhin unklar.
Israels Streitkräfte (IDF) standen unter grossem Druck, Beweise für diese Aussagen vorzulegen und die Kritik zu kontern – zumal die Hamas wie auch Mitarbeiter des Spitals die Vorwürfe vehement bestreiten. Mehrere Tage später lassen sich nun zwei Schlüsse ziehen: Das befürchtete Blutbad ist ausgeblieben – zwar sind wohl zahlreiche Patienten wegen des Strommangels gestorben, aber ein Grossteil der Menschen im Shifa-Spital, darunter Dutzende Frühgeborene, konnte evakuiert werden. Nur einige Ärzte und Patienten verbleiben in der Klinik.
Israel hat inzwischen diverse Indizien vorgelegt, die auf eine militärische Nutzung des Spitals hinweisen. Den abschliessenden Beweis für die Existenz eines grossen Terror-Komplexes hat Israel bisher allerdings nicht öffentlich vorgelegt. Was hat die Armee gefunden? Und was nicht?
Rund eine Woche ist vergangen, seit israelische Soldaten am 14. November im Dunkel der Nacht ins Shifa-Spital im Norden des Gazastreifens eingedrungen sind. Diverse Stimmen hatten vor diesem Schritt gewarnt – sie befürchteten ein Blutbad in dem Spital, in dem sich nach wie vor Patienten, Ärzte und schutzsuchende Zivilisten befanden. Manche wiesen warnend auf die Gefahr eines Kriegsverbrechens hin. Ein Spital ist völkerrechtlich geschützt, sofern es nicht militärisch genutzt wird.
Israel liess sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Es beteuert seit Wochen, dass sich unter dem Spital ein weitläufiger Komplex befinde, der von der Hamas als Hauptquartier genutzt werde. Schon am 27. Oktober veröffentlichte die Armee eine Visualisierung, die einen riesigen Tunnelkomplex zeigt. Sie warf der Hamas vor, das Krankenhaus – wie auch andere Spitäler im Gazastreifen – für terroristische Aktivitäten zu nutzen. Am vergangenen Dienstag stützten auch die USA diese Aussagen unter Berufung auf eigene geheimdienstliche Erkenntnisse. Kurz darauf startete die israelische Operation.
Am Sonntagabend hat das israelische Militär die bisher signifikantesten Indizien veröffentlicht. Mehrere Videos zeigen einen Tunnel, dessen Zustieg sich offenbar im nordöstlichen Bereich des Spitalgeländes befindet. In einer wohl ungeschnittenen Aufnahme ist ein vertikaler Schacht mit einer Wendeltreppe zu sehen, die in einen betonierten Tunnel mündet. Der schmale Gang biegt nach wenigen Metern scharf nach links in einen längeren Tunnel ab. An dessen Ende ist eine weisse, laut den IDF explosionssichere Metalltür mit einer Schiessscharte zu sehen. Dann endet die Aufnahme.
Laut der Armee ist der Tunnel 55 Meter lang und erstreckt sich in rund 10 Metern Tiefe. Gegenüber der «Washington Post» sagte ein Armeesprecher, der Tunnel führe vom Spitalgelände weg und sei mit dem grossen Tunnel-Netzwerk unter Gaza verbunden. Der Zustieg zum Tunnel wurde laut der Armee entdeckt, nachdem sie auf dem Gelände ein kleines Gebäude abgerissen hatte.
Unklar ist, ob die IDF inzwischen weiter vorgedrungen sind. Die Armee vermeidet es in der Regel, Soldaten in die Tunnels zu schicken. «Wir wollen da nicht hinuntergehen. Wir wissen, dass sie uns eine Menge Sprengsätze hinterlassen haben», sagte ein israelischer Offizier vergangene Woche.
Zwei Geiseln im Spital
Quellen: Maxar (Satellitenbild vom 7. 11. 2023).
Ebenfalls am Sonntagabend veröffentlichte die Armee zwei Aufnahmen, die von Überwachungskameras im Shifa-Spital stammen. In der ersten Einstellung ist zu sehen, wie bewaffnete Männer in Zivilkleidung eine Person in einem blauen T-Shirt mit Gewalt ins Spital zerren. In einer zweiten Einstellung ist ein anderer Mann zu sehen, der verletzt auf einer Trage liegt. Daneben gestikulieren einige der Männer, die schon in der ersten Sequenz zu sehen waren. Mindestens drei von ihnen tragen Gewehre, einer ein Messer.
In einem weiteren von der israelischen Armee veröffentlichten Video ist zu sehen, wie eine Geisel ins Spital gezerrt wird.
Twitter / X / Israel Defense Forces
Laut dem Zeitstempel der Videos wurden sie am Morgen des 7. Oktober aufgenommen – dem Tag des Hamas-Überfalls auf Israel. Nach Angaben der IDF handelt es sich bei den Männern um Geiseln mit nepalesischer und thailändischer Staatsbürgerschaft. Der Mann im blauen T-Shirt taucht mutmasslich auch in einem Video auf, das zuvor am 7. Oktober im Kibbuz Alumim von einer Überwachungskamera aufgenommen wurde. Dort ist zu sehen, wie er von Hamas-Terroristen eskortiert wird.
Die Hamas bestritt am Sonntag nicht, dass Geiseln in das Spital gebracht wurden. Ein Mitglied des Politbüros sagte: «Die Betreuung der Gefangenen, die Behandlung und die notwendige medizinische Versorgung sind Punkte, die für uns sprechen und nicht gegen uns.» Dies widerspricht jedoch den Beteuerungen der Hamas und der Ärzte, dass im Shifa-Spital keine Terroristen oder Geiseln gewesen seien.
Am vergangenen Donnerstag hatten die IDF nach eigenen Angaben zudem zwei Leichen von Geiseln in unmittelbarer Nähe des Spitals entdeckt. Eine davon, die 19-jährige Soldatin Noa Marciano, war laut einem Armeesprecher von einem Hamas-Terroristen im Shifa-Spital getötet worden. Die Hamas hingegen sagt, Marciano sei bei einem israelischen Luftangriff ums Leben gekommen.
Überwachungsbilder vom Shifa-Spital zeigen weiter, dass die Hamas am 7. Oktober wohl auch israelische Militärfahrzeuge auf das Gelände des Spitals gebracht hatte. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.
Aufnahmen von einer Überwachungskamera beim Shifa-Spital zeigen, wie am 7. Oktober zwei israelische Militärfahrzeuge auf das Spitalgelände gebracht werden.
Vorwürfe der Manipulation
Schon im Verlauf der vergangenen Woche hatten die IDF Aufnahmen aus dem Shifa-Spital veröffentlicht. In den Fotos und Videos sind Schusswaffen, Handgranaten und weitere Ausrüstungsgegenstände zu sehen, die laut der Armee im Spital gefunden wurden. Von palästinensischer Seite hiess es hingegen, die Israeli hätten die Waffen im Spital platziert. Die Armee präsentierte auch einen Computer, auf dem angeblich Informationen zu Geiseln gespeichert waren.
Quellen: Maxar (Satellitenbild vom 7. 11. 2023), IDF, NZZ-Recherchen
Für Aufsehen sorgte ein angeblich ungeschnittenes Video vom 16. November, in dem der israelische Armeesprecher Jonathan Conricus durch das Spital führt und die Fundorte verschiedener Gegenstände zeigt. Schnell wiesen Nutzer in den sozialen Netzwerken darauf hin, dass das Video sehr wohl geschnitten war. Weiter präsentierte Conricus einen Rucksack, der offenbar hinter einem MRI-Gerät versteckt worden war. Darin ist ansatzweise ein Sturmgewehr zu sehen.
Als nur Stunden später internationale Journalisten das Spital besichtigen konnten, lagen an derselben Stelle zwei Sturmgewehre. Erneut wurde der Vorwurf laut, Israel habe Beweismaterial manipuliert. Die Armee teilte später mit, sie habe zunächst Sprengstoff und Minen entfernen müssen. Erst danach habe man das Material zurückbringen können, um es den Medien zu zeigen.
Kritik auch in Israel
Es war nicht das erste Mal, dass es in einem Video der Armee Unstimmigkeiten gibt. Deshalb sprechen propalästinensische, aber auch andere Kanäle den Aufnahmen jegliche Glaubwürdigkeit ab. Auch das ist Teil des Informationskriegs, der online in aller Härte tobt – und den Israel in der arabischen Welt längst verloren zu haben scheint.
Doch auch in Israel ist Kritik an der Operation im Shifa-Spital laut geworden. So schrieb ein israelischer Journalist vergangene Woche, die Einnahme des Spitals hätte der grösste Moment des Krieges sein sollen, doch die IDF hätten «der Welt einen viel schwächeren Beweis für die Anwesenheit der Hamas im Krankenhaus vorgelegt als erwartet».
Zwar steht seit Sonntag zweifelsfrei fest, dass Hamas-Terroristen Geiseln ins Spital gebracht haben. Es ist zudem unumstritten, dass die Hamas zivile Gebäude für militärische Zwecke nutzt: ein Kriegsverbrechen. Doch die meisten vorgelegten Beweise lassen sich nicht unabhängig verifizieren. So bleibt der internationale Druck auf Israel hoch, Beweise für die Existenz des Hamas-Hauptquartiers vorzulegen – zumal es Israel war, das die Erwartungen hochgetrieben hat.