Die Dienstpflicht für strenggläubige Juden ist ein jahrzehntealtes Politikum. Der Krieg hat es plötzlich wieder in den Mittelpunkt der Debatte katapultiert. Die Regierung muss Lösungen finden – doch ihr läuft die Zeit davon.
Dass aber Hunderte von ultraorthodoxen Männern eine Autobahn blockieren und sich Scharmützel mit der Polizei liefern, wie es Anfang März nahe Bnei Brak geschehen ist, ist selbst in Israel ungewöhnlich. Doch die Haredim, wie die Ultraorthodoxen auf Hebräisch genannt werden, haben derzeit allen Grund, beunruhigt zu sein.
«Wir werden sterben und nicht einrücken», stand auf den Plakaten, die sie in die Höhe hielten. Ihr Ärger richtete sich gegen die immer lauter werdenden Rufe, dass auch die Ultraorthodoxen zum Militärdienst eingezogen werden sollen. Denn mit dem Krieg gegen die Hamas ist eine seit Jahrzehnten schwelende Streitfrage wieder in den Mittelpunkt der nationalen Debatte gerückt, die das Potenzial hat, die Koalition von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu platzen zu lassen.
Thora statt Armee
Grundsätzlich gilt in Israel: Alle jüdischen Israeli müssen Militärdienst leisten – 32 Monate die Männer, 24 die Frauen. Es gibt allerdings einen Ausweg: Wer bis zu einem gewissen Alter eine Yeshiva – eine religiöse Schule – besucht, kann nicht eingezogen werden. Diese Regelung ist so alt wie der Staat Israel selbst: 1948 kam der Staatsgründer David Ben-Gurion mit den Haredim überein, dass eine kleine Zahl von Yeshiva-Schülern keinen Dienst leisten muss, solange diese sich ausschliesslich dem Studium der Thora widmen.
Diskriminierende Praxis
Allerdings war Israels Oberstes Gericht schon 1998 zum Schluss gekommen, dass die Ausnahmepraxis diskriminierend und deshalb illegal sei. Seither haben mehrere israelische Regierungen vergeblich versucht, das Problem zu lösen. So urteilte das Gericht im Jahr 2017, dass ein von der Knesset verabschiedetes Gesetz, das eine pauschale Ausnahmeregelung vorsah, ungültig sei. Es wies die Regierung an, ein neues Gesetz auszuarbeiten, das zu einer verstärkten Rekrutierung von Haredim führen sollte.
Die Frist dazu lief im vergangenen August aus, das Gesetz verfiel – doch die Netanyahu-Regierung fand erneut einen Weg, sich mehr Zeit zu verschaffen. Fünf Tage vor Fristende verabschiedete das Kabinett eine Resolution, in der die Armee angewiesen wurde, bis zum 31. März 2024 auf die Rekrutierung von Yeshiva-Schülern zu verzichten. Die Argumentation: Der Beschluss ändere nicht die Rechtslage, sondern sorge lediglich dafür, dass die gegenwärtige Rechtslage nicht umgesetzt werde, während man nach einer Lösung suche.
Nun naht der 31. März, und es liegt kein neuer Vorschlag auf dem Tisch. Die Regierung hat bereits eine weitere Verlängerung beantragt. Wegen des Krieges sei es nicht möglich gewesen, sich um die Gesetzgebung zu kümmern. Doch Ende Februar wies das Gericht die Regierung an, bis zum 24. März zu begründen, weshalb die Resolution nicht annulliert werden solle. Die Regierung hat ihrerseits versprochen, bis dahin einen Gesetzesentwurf vorzulegen und diesen bis Ende Juni zu verabschieden.
Der Personalbedarf der Armee bleibt hoch
Der Streit um die Dienstpflicht für Ultraorthodoxe geht weit über die juristisch-politische Dimension hinaus. Viele Israeli, die treu Dienst leisten, empfinden es als zutiefst ungerecht, dass ein wesentlicher Teil der Gesellschaft diese Last nicht mittragen muss. Der Krieg hat diese Stimmungslage noch einmal verstärkt. In einer neuen Umfrage sprachen sich 70 Prozent der jüdischen Israeli dafür aus, dass die Ausnahmeregelung geändert werde.
Nach dem brutalen Hamas-Angriff vom 7. Oktober hatten sich Tausende Soldatinnen und Soldaten bei ihren Einheiten gemeldet, noch bevor sie einen Marschbefehl erhalten hatten. Es wurden fast 300 000 Reservisten eingezogen. Zwar wurden die meisten inzwischen wieder ins zivile Leben entlassen, doch bei vielen bleibt ein bitterer Nachgeschmack, da keine Haredim an ihrer Seite gekämpft hatten. Bereits fürchtet die Armeeführung, dass die Motivation der Reservisten abnehmen könnte, wenn das Problem nicht gelöst wird.
Gleichzeitig geht das Verteidigungsministerium davon aus, dass der Personalbedarf der Armee auf Jahre hoch bleiben wird. Bereits fehlen in den professionellen Kampfeinheiten rund 2000 Soldaten. Daher hat das Ministerium kürzlich einen Gesetzesentwurf vorgelegt, wonach die verpflichtende Dienstzeit auf volle drei Jahre und das Dienstalter für Reservisten von 40 auf 45 Jahre erhöht werden soll. Der Vorschlag sorgte für einen Aufschrei. Die Vorstellung, mehr Dienst leisten zu müssen, während die Haredim ausgenommen bleiben, empörte viele Israeli. Vor dem Haus eines ultraorthodoxen Ministers versammelten sich wütende Demonstranten.