Sa. Dez 21st, 2024
Das Auto zerkratzt, Parteibüro beschmiert, dazu massenhaft Beleidigungen. Politikerinnen und Politiker sind immer häufiger Angriffen ausgesetzt. Zwei Parteien sind in Hessen besonders betroffen.

Gerechtere Bildungschancen für die Jungen, bessere Pflege für die Alten. Das sind Themen, mit denen sich Kathrin Anders, Landtagsabgeordnete der Grünen, gerne beschäftigen möchte. Doch immer wieder wird die Arbeit der 41-Jährigen aus Bad Vilbel (Wetterau) unterbrochen – vom Ärger über Drohschreiben, einer eingeschlagenen Scheibe an der Gartenhütte oder dem zerkratzten Auto.

“Da fühlt man sich sehr ohnmächtig”, sagt Anders im Interview mit dem hr, “gerade, wenn man Kinder hat.” Es schüchtere ein, dass so etwas vor der eigenen Haustür passieren könne.

“In den Wahlkämpfen passiert das regelmäßig”, sagt Anders. Auch Ehrenamtliche in der Kommunalpolitik seien zunehmend Anfeindungen ausgesetzt. Manche zögen sich dann zurück, zuerst aus den sozialen Medien, manchmal sogar aus einem Gremium wie einer Stadtverordnetenversammlung. “Wir brauchen eine wehrhafte Demokratie, und das entscheidet sich natürlich auch vor Ort”, sagt die Landeschefin der hessischen Grünen.

Grüne führen Negativstatistik an

Zahlen des Landeskriminalamts (LKA), die dem hr exklusiv vorliegen, zeigen: 2023, im Jahr der Landtagswahl, gab es einen neuen Höchststand: 86 gemeldete Angriffe auf Parteirepräsentanten der Grünen, darunter 72 sogenannte “Äußerungsdelikte” – also beispielsweise Bedrohung, Beleidigung, Nötigung und Verleumdung. Zudem wurden 29 Wahlplakate der Grünen beschmiert oder zerstört, sechsmal richtete sich der Angriff auf ein Parteibüro. Die Grünen führen damit die traurige Statistik an.

Auch die Alternative für Deutschland (AfD) bleibt von Attacken nicht verschont. Insgesamt 44 Angriffe verzeichnen die LKA-Zahlen für 2023. Aber anders als bei den Grünen sind darunter auch fünf Gewaltdelikte wie Körperverletzung oder Landfriedensbruch. In dieser Kategorie ist die AfD Spitzenreiter – worauf die Partei gerne verzichtet hätte. Dazu 75 beschädigte Wahlplakate und zwei Angriffe auf Parteieinrichtungen.

Insgesamt registrierte das LKA im vergangenen Jahr 192 Angriffe auf politische Repräsentanten der im Landtag vertretenen Parteien. Im Jahr 2019 hatte diese Zahl bei gerade einmal 21 gelegen.

AfD-Chef berichtet von Angriffen

Der Co-Landesvorsitzende der AfD, Andreas Lichert, kann von Schmierereien, zerkratzten Autos und eingeworfenen Scheiben berichten. Auch sein Wohnhaus wurde bereits von mehreren Personen und verschiedenen Seiten mit Farbe und Steinen attackiert. Wer Gewalt gegen Personen oder Sachen verübe, der verlasse den Boden demokratischer Legitimation.

Die Hemmschwelle sei im linken Spektrum gesunken, Angriffe auf die AfD aus Licherts Sicht die logische Folge. “Man setzt sich leider heutzutage in Deutschland einem gewissen Risiko aus, wenn man sich demokratisch für die AfD engagiert”, meint Lichert. Sorgen um zu wenig politischen Nachwuchs macht sich der AfD-Chef aber nicht. Bei einigen sei vielmehr eine “Jetzt-erst-Recht-Reaktion” zu beobachten.

Was die Zahlen des LKA auch zeigen: In Wahljahren gibt es mehr Angriffe. Das war nicht nur 2023 so, sondern auch schon zwei Jahre vorher im Jahr der Bundestagswahl. Damals war die CDU am häufigsten betroffen, 72 der insgesamt 139 Angriffe richteten sich gegen Politikerinnen und Politiker der Christdemokraten.

Innenminister: “Kurze Zündschnur”

Für Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) eine gefährliche Entwicklung. Ob sich die Angriffe gegen vermeintlich linke oder rechte Politiker richten, dürfe dabei überhaupt keine Rolle spielen. “Straftaten sind kein legitimes Mittel in einer Demokratie, und das gilt in alle Richtungen.” Zwar halte er die AfD für radikal und hochgefährlich. “Aber das müssen wir mit den Mitteln der Demokratie, mit friedlichen Mitteln austragen”, sagt Poseck im Gespräch mit dem hr.

Aber woher kommt die Aggression? Poseck sieht Gründe im gesellschaftlichen Wandel. “Die Zündschnur ist bei vielen kürzer”, das habe sich schon in der Corona-Zeit gezeigt und wirke leider fort.

Grüne als Sündenbock

Für den Extremismusforscher Rainer Becker von der Uni Marburg ein “markantes Problem, das wir sehr, sehr ernst nehmen müssen”. Wenn sich beispielsweise aufgrund der Anfeindungen immer weniger Menschen ehrenamtlich in der Kommunalpolitik engagieren wollten, sei das eine ernste Gefahr für die Demokratie.

Aus Beckers Sicht ist nicht überraschend, dass vor allem die Grünen betroffen sind. Sie seien zuletzt als Feindbild und Sündenbock für den gesellschaftlichen Wandel stilisiert worden. “Die Grünen stehen für einen bestimmten Lebensstil”, sagt Becker. Die sozialen Medien lüden zudem stark dazu ein, schnell und emotional Anfeindungen auszusprechen.

Polizei hilft bei Prävention

Was also tun? Die Polizei sei doppelt gefordert, sagt Innenminister Poseck. Bei Prävention und Strafverfolgung. Werden Politikerinnen und Politiker bedroht, können sie sich an die Polizei wenden und beraten lassen. Je nach Einschätzung der Gefahr könnten dann sogar Wohnungen oder Personen geschützt werden, so Poseck.

Dem pflichtet auch Wissenschaftler Becker bei. Wer bedroht werde, solle sich Unterstützung holen – von Polizei oder dem Hessischen Demokratiezentrum. “Das Schlechteste wäre es, es zu ignorieren”, so Becker.

Poseck appelliert an Umgangsformen

Komme es dennoch zu Angriffen, sei konsequente Strafverfolgung das oberste Gebot, sagt Minister Poseck. Das befolge die hessische Polizei auch – und zwar politisch unabhängig und ideologiefrei. “Es werden alle Straftaten verfolgt. Egal, ob sie sich gegen links stehende oder rechts stehende oder andere Parteien oder Gruppierungen richten.”

Doch die Politik habe eine Aufgabe: “Wir müssen den demokratischen Diskurs wieder verändern”, sagt Poseck und spricht von “verbal abrüsten”. Stärker das Argument in den Mittelpunkt stellen und weniger den politischen Gegner diffamieren, das sei ein Gebot der Stunde.

Da müssten sich zwar alle an die eigene Nase fassen. Aber Hass und Hetze würden nun mal besonders von rechtsextremen Kräften in die Debatte eingeworfen. Daraus könnten Gewalttaten entstehen, deshalb müsse sich gerade an den politischen Rändern der Ton in der Debatte und der Umgang mit Politik erheblich ändern.