Fr. Nov 22nd, 2024
Mit elf Jahren auf der Flucht, am Ende in Auschwitz: Ein Dokumentarfilm über die Jüdin Eva Szepesi zeichnet diesen Weg nach. Szepesi ist für die Dreharbeiten von Frankfurt über Budapest und die Slowakei nach Auschwitz gereist.

An dieser Stelle haben sie gelegen – Evas Zöpfe, abgeschnitten von einer Aufseherin im Konzentrationslager Ausschwitz. Ehe es sich die Zwölfjährige damals versieht, ist sie, wie die anderen Häftlinge, kahl rasiert.

Jetzt, rund acht Jahrzehnte später, steht Eva Szepesi wieder dort, in Ausschwitz, um sie herum dieses Mal ihre Kinder und Enkel. Anlässlich der Dreharbeiten zum Dokumentarfilm “In der Luft, da bleibt deine Wurzel” kehrte die Wahl-Frankfurterin mit ihrer Familie zurück an den Ort des Schreckens ihrer Kindheit.

Ein Abschied für immer

Eva Szepesi wuchs in Budapest auf, die Eltern führten eine Boutique für Herrenmode. Als 1944 die SS nach Ungarn marschierte, wurde es für die Familie gefährlich. Der Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits zum Arbeitsdienst in die besetzte Sowjetunion abkommandiert.

Eva wurde mit elf Jahren von ihrer Mutter auf die Flucht geschickt und sollte in die Slowakei zu einer Tante fahren. Am Bahnhof in Budapest nahm die Mutter Eva in den Arm, so fest, dass sie fast keine Luft mehr bekommt, wie Szepesi sich im Film erinnert. Sie sah ihre Mutter nie wieder.

Film zeichnet die Flucht nach

Im Dokumentarfilm “In der Luft, da bleibt deine Wurzel”, geht Eva Szepesi, diesmal mit 87 Jahren, den Weg aus ihrer Kindheit also noch einmal, begleitet von ihrer Tochter Anita Schwarz, ihrem Schwiegersohn und den Enkelkindern Leroy, Celina und Sharon. Es ist eine Reise, die in Budapest beginnt, dann auf den Spuren von Evas Flucht in die Slowakei führt und schließlich in Ausschwitz endet – alles begleitet von dem Frankfurter Regisseur Mario Morales und seinem Filmteam.

Aufarbeitung für die Familie

So nah an der Geschichte ihrer Großmutter zu sein, war für die Familie neu. Lange schwieg Eva Szepesi über die Vergangenheit. Richtig trauern kann sie erst seit ein paar Jahren, sagt sie im Film. Seit 2016 steht ein Bild ihrer ermordeten Familie auf der Kommode.

Wie das Überleben der Großmutter das Leben von Kindern und Enkelkindern prägt – auch diese Frage stellt der Film. Auf der Reise stellten Celina und Leroy ihrer Großmutter viele Fragen: “Oma, wo hast du in der Klasse gesessen? Wie war das, als die anderen angefangen haben, dich zu hänseln, weil du Jüdin warst?”

Leroy trägt seit der gemeinsamen Reise immer ein Foto von Tamas mit sich herum – dem kleinen Bruder seiner Großmutter, der von den Nazis als Kind ermordet wurde.

Filmteam hält sich im Hintergrund

Dass die Familie bei ihrer Reise für einen Dokumentarfilm vor der Kamera steht, ist für den Zuschauer nicht zu spüren. Das Filmteam hielt sich bei den Dreharbeiten stets im Hintergrund – eine bewusste Entscheidung, sagt der Regisseur. In das Geschehen, die Gespräche der Familie wurde nicht eingegriffen, Szenen nicht gestellt oder wiederholt. Auch führt keine Sprecherstimme durch die Handlung. “Der Film erzählt sich von selbst”, sagt Morales.

Touristenströme in Ausschwitz

Die Dreharbeiten seien eine Herausforderung gewesen, so der Regisseur. Besonders der Besuch des Konzentrationslagers Ausschwitz sei für alle ein schwerer Gang gewesen, nicht nur für die Familie. Auch das Filmteam ist jüdisch – er selbst habe während den Dreharbeiten das erste Mal in seinem Leben ein Konzentrationslager besucht, so Morales.

Auch die vielen Touristen, die dort täglich Schlange stehen und Eintrittskarten kaufen, machten es der Familie schwer. Eigentlich, sagt Enkelin Sharon, sollte Ausschwitz eher als Friedhof gesehen werden. Nicht als Museum.

“Die Shoa begann mit dem Wegschauen der Gesellschaft”

Nachdem sie aus Ausschwitz befreit worden war, ging Eva Szepesi erst zurück nach Ungarn. Mit ihrem Mann zog sie in den 1950er-Jahren nach Frankfurt, wo sie bis heute lebt.

Es dauerte viele Jahre, bis sie über ihre Flucht und ihr Überleben der Shoa sprechen konnte. Mittlerweile spricht sie vor Schulklassen und hat ein Buch über ihre Flucht geschrieben. Für ihr Engagement als Zeitzeugin bekam sie 2017 die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt verliehen.

Im Januar 2024 sprach Eva Szepesi am Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag. “Die Shoa hat nicht mit Ausschwitz begonnen, sondern mit dem Wegschauen der Gesellschaft”, sagte sie dort. Und warnte vor einem erstarkenden Antisemitismus in Deutschland, gerade nach dem 7. Oktober und dem Angriff der Hamas auf Israel.

Dass ihre Oma diese Reise mit ihnen gemacht hat, den Mut gehabt hat, noch einmal nach Ausschwitz zu gehen, darauf ist sie sehr stolz, sagt Enkelin Celina. Damit Eva Szepesis Geschichte niemals in Vergessenheit gerät.