Die Situation ist dramatisch. “In Süd- und Mittelamerika wird mehr Kokain produziert als je zuvor”, warnt Catherine de Bolle, Leiterin von Europol, der europäischen Polizeibehörde. Neben Hamburg überwacht De Bolle auch die beiden anderen wichtigsten europäischen Häfen für den Kokainschmuggel: Rotterdam und Antwerpen. Im Jahr 2023 wurden dort insgesamt 175 Tonnen entdeckt, weit mehr als im Hamburger Hafen. Die Menge, die in Rotterdam und Antwerpen beschlagnahmt wurde, stieg jedoch zwischen 2022 und 2023 nur um knapp 10 Prozent. In Hamburg hingegen betrug der Anstieg 500 Prozent, von sechs auf fünfunddreißig Tonnen. Für die deutschen Ermittler schrillen die Alarmglocken.
Hat sich die Situation in Deutschland verschärft, weil die Kontrollen in Rotterdam und Antwerpen zugenommen haben? Suchen Schmuggler immer nach den einfachsten Wegen und ist Hamburg daher ihre neue bevorzugte Route geworden? Ermittler wie Erdmann haben Schwierigkeiten, sich ein klares Bild zu machen, da die massiven Funde das Gesamtbild verzerren. Doch die neuesten Berichte des Bundeskriminalamts über den Drogenhandel deuten genau darauf hin: Im vergangenen Jahr stieg in Deutschland die Zahl der Fälle, in denen “nicht unerhebliche Mengen an Betäubungsmitteln” beschlagnahmt wurden, um 25 Prozent.
Lange Zeit haben Politiker und die Öffentlichkeit die Situation ignoriert. Wenn es um Drogen ging, schien Kokain das kleinere Übel zu sein: illegal, aber irgendwie auch exklusiv.
Zudem schien Kokain, bevor seine billigere Variante Crack—das geraucht wird und extrem süchtig macht—auf deutschen Straßen auftauchte, kein weitverbreitetes Elend zu verursachen. Auch Todesfälle waren selten. Zynisch gesagt: Es war eine Zahl, die die Gesellschaft und damit auch die Politiker tolerieren konnten.
Jetzt haben zwei Faktoren die Situation verändert: Erstens die enormen Mengen, die ankommen und konsumiert werden. Noch nie wurde so viel Kokain geschnupft. In neunundvierzig von zweiundsiebzig untersuchten europäischen Städten sind die Kokainspuren im Abwasser gestiegen, nur in zehn sind sie gesunken. Heute konsumieren nicht nur Studenten Kokain, sondern auch Klempner, Bauarbeiter und Polizisten. Es ist nicht mehr die Droge der Oberschicht. Eine Line kostet sechs oder sieben Euro: Kokain ist zur Alltagsdroge der Massen geworden – für alle, die ihre Ängste loswerden oder ihre Leistung steigern wollen. Es wird einige Jahre dauern, bis sich die Folgen zeigen: Kokainkonsumenten haben ein höheres Risiko für Herzinfarkte.
